Meine Reise startet pünktlich am Frankfurter Flughafen. Die Bahn hat unterwegs wieder einmal ein paar kleine Pausen eingelegt, jedoch habe ich diese in weiser Voraussicht in einem „ich will unbedingt nach Indien-Puffer“ mit eingeplant.

13 Jahre ist es her, dass ich das letzte Mal dort war. Es gab Zeiten, da war es mal mein Lieblingsland, aber nach dem 3. Aufenthalt hatten es die Inder geschafft, dass ich erst einmal 13 Jahre Pause brauchte. Aber jetzt geht es wieder hin und ich freue mich auch schon tierisch darauf – ganz speziell auf die vielen kleinen Abenteuer und das leckere Essen. Es ist schon auch ein sehr spannendes Land und langweilig werden kann einem in Indien auf keinem Fall. Ganz viele Menschen, die unbedingt mit dir reden möchten und hinter jeder Ecke lauert wieder eine kleine Überraschung, die einem zum Schmunzeln oder gar zum Staunen bringt. Ja, es gibt viele Menschen und es gibt auch viele arme Menschen dort. Zudem herrscht auch noch ein Zustand den der normale Mitteleuropäer wohl schlicht weg als Chaos bezeichnen würde und irgendwie fragt man sich jedes Mal aufs Neue, wieso kollabiert das Ganze nicht einfach in sich selbst? Aber es sind wieder 13 Jahre vergangen und angeblich scheint alles noch zu stehen. Das macht es zumindest den Anschein, wenn ich mit Ambuj – unserem Mann vor Ort in Delhi telefoniere und mit Ihm mal wieder eine spannende Reiseroute für einen unserer Kunden aushecke. Aber es kann auf jeden Fall nicht schaden, sich selbst einmal wieder zu vergewissern.

Nun betrete ich also den Flieger und merke ganz schnell, dass wenn man Air India bucht, das indische Abenteuer schon beim Betreten des Fliegers in Frankfurt startet. Der Flug wurde vom indischen Fremdenverkehrsamt gesponsert und soll mich direkt nach Delhi auf den Incredible India Tourism Mart bringen. Eine dreitägige Messe mit anschießendem Trip nach Ladakh. Das Gebiet mitten im Himalaya an der Grenze zu China reizt mich schon lange. Da wollte ich unbedingt noch hin. Im Flieger habe ich natürlich einen Sitzplatz in der Mitte erwischt. Ich nehme Platz und sehe mit Erleichterung, dass ich sowohl links als auch rechts von mir keinen großen, dicken Mann, sondern jeweils eine kleine ältere Inderin habe. Glück gehabt denke ich … da habe ich wenigstens einigermaßen Platz. Die Maschine ist noch nicht einmal gestartet, da merke ich, dass die Dame links neben mir die Augen schon nicht mehr offenhalten kann und ihr Kopf sich immer mehr meiner Schulter nähert. Auf Grund der vielen Menschen in Indien, ist Abstand halten eher etwas Unbekanntes – nahezu schon fast Unmögliches.  Und spätestens als ihr Kopf dann leicht schnarchend an meiner Schulter lehnt, bin ich mir endlich 100% bewusst, jetzt geht es nach Indien!!!

Am Ausgang des Flughafens von Delhi wartet bereits Ambuj auf mich. Ganz schön wirr im Kopf von Jetlag und dem viel zu kurzem Schlaf kurven wir gemeinsam durch die Straßen Delhi. Vorbei an herumspringenden Affenbanden, verwahrlosten Obdachlosen und bettelnden Kindern, die Unterführungen und Gehsteige zu Dutzend bevölkern. An einer Straßen Ecke halten wir an. Ambuj springt nach draußen und holt zum Frühstück einen Chai und ein paar Samosas bei einem Typen der seinen Chai- und Frühstücksstand notdürftig aus ein paar alten Brettern zusammengenagelt hat und auch den Anschein erweckt, dass die 1,5 Quadratmeter seines Ladens nicht nur sein Laden selbst, sondern auch sein Zuhause sind.  „Ganz schön scharf die Soße zu den Samosas“, denke ich mir noch und hoffe, dass mein Magen stark ist. Frisch gestärkt geht es weiter Richtung Hotel. Unterwegs erzähle ich unserem relativ jungen Fahrer, dass ich vor 13 Jahren das letzte Mal in Indien war und möchte wissen, wie alt er damals war. Kopfschüttelnd schaut er mich an und sagt, dass ihm während der Fahrt nicht gestattet ist zum Zählen die Finger vom Lenkrad zu nehmen. „Ok, wieder etwas gelernt!“

Ich nächtige im Roseate House und mir fällt ein Stein vom Herzen. Ein ordentliches modernes und neues Hotel mit schönen Zimmern. Auffallend viele junge Inder Ende Zwanzig mit teuren Autos tummeln sich hier. Ich habe das Gefühl, dass der ein oder andere aus Delhi selbst kommt. Wohnt man noch bei den Eltern und ist noch nicht verheiratet, und hat mal kein Bock auf das langweilige Elternhaus, aber besitzt das nötige Kleingeld, mietet man sich halt einfach mal für ein paar Tage in einem Hotel am Stadtrand ein und lässt es sich dort gut gehen.

Später will ich es wissen … Also nehme ich den Schnellzug zum New Delhi Train Station. Ich bin erstaunt. Der Zug ist relativ modern. Hat sich etwa in meiner Abwesenheit hier etwas getan und verändert? Ich komme unterirdisch an. Ein riesiges unterirdisches Hallen-Wirrwarr. Erstaunlich wenig Menschen tummeln sich hier und ich stelle mir mehrmals die frage, ob ich tatsächlich auf dem Weg nach draußen bin?

Aber dann bin ich endlich an der „frischen“ Luft – naja, Luft in Delhi ist nie frisch. Ich stehe direkt vor dem New Delhi Train Station. Und was eben noch etwas gruselig war … die vielen Hallen, in denen kaum Menschen vorzufinden waren, erdrückt mich hier nun fast. Auf einmal ist alles voll mit tausenden von Menschen. Das interessante am Bahnhof hier ist, dass die Menschen aus den unterschiedlichsten Ecken Indiens stammen und etliche ihrer Region entsprechend gekleidet und gestylt sind. Eine kunterbunte Menschenansammlung, die zum Staunen veranlasst. Ich möchte nach Paharganj – in das alte ursprüngliche Delhi. Geprägt von Chaos und jeder Menge Kühen, die hier die Straßen und Gassen besiedeln. Pahargaj liegt jedoch auf der anderen Seite des Bahnhofes.

Aber wie kommt man auf die andere Seite der Gleise? Endlich sehe ich Treppenstufen, die zu einer Brücke über die Gleise führen. Da muss ich hinkommen. Erstmal wird das Gepäck durchleuchtet und der Körper nach Sprengstoff abgetastet … dann darf man das Bahnhofsgelände und die Brücke betreten. In der Mitte der Brücke verläuft ein Zaun. Wer gerade aus will muss sich links einordnen. Hier herrscht Linksverkehr. Das stammt noch von den Briten. Also ordne ich mich links ein. Es ist bitter notwendig, dass hier der Fußverkehr geregelt ist, damit nicht alles zum Erliegen kommt. Es gibt ein paar wichtige Dinge, um den Massen Herr zu werden, z.B. dürfen LKWs erst ab 22 Uhr in die Stadt fahren. Es geht trotzdem alles langsam und zäh vorwärts. Aber irgendwie schaffe ich es doch noch auf die andere Seite des Bahnhofs. Und da steht sie vor mir: die erste indische Kuh auf meiner jetzigen Reise.

Hier in Paharganj fühlt man sich angekommen in Indien – genauso, wie man es sich vorstellt. Enge Gassen, bunt, chaotisch, etwas schmutzig und der Duft von Gewürzten und Raucherstäbchen in der Luft. Ich schlendere durch die Gassen und bestaune die unterschiedlichsten Läden, kleinen Märkte und die Vielzahl an Restaurants, die es hier gibt. Immer darauf achtend nicht in einen frischen Kuhfladen zu steigen. Ein etwa 15-jähriger Junge hinter seinem Simkarten-Stand macht mir wild gestikulierend aus etwa 5 Metern Entfernung unmissverständlich klar, dass er entweder etwas sehr Gutes zu rauchen hat oder zumindest bereit wäre, um etwas derartiges aufzutreiben, dafür durch komplett Alt Delhi für mich zu rennen. Dankend lehne ich ab.

Schrille Musik ertönt aus uralten, aber riesigen Lautsprecherboxen von im Schritttempo vorbeifahrenden von Ochsen gezogenen Karren. Irgendeine Puja – ein religiöses Fest scheint hier gerade abgehalten zu werden. Bunt bemalte Menschen in mir fremdartig vorkommenden Kostümen stehen auf den dekorierten Ochsenkarren. Es wird zusätzlich wild getrommelt und Menschen ziehen tanzend mit den Karren mit. Ja, das ist das wahre Indien! Hinter jeder Ecke wieder eine kleine Überraschung. Ich gehe weiter vorbei an Bettlern ohne Beine tiefer ins Getümmel hinein.

Und dann hängt er an mir. Der Erste auf dieser Reise. Alle Verkäufer habe ich geschafft mit geübter Ignoranz einfach links liegen zu lassen. Dieser hier scheint aber hartnäckiger zu sein. Außerdem hat er nichts zu verkaufen. Er braucht nur Geld. Und er scheint sich fest vorgenommen zu haben, dass ich der bin, der es ihm geben wird. Er versucht es auf die nette Methode. Erst mal bisschen Smalltalk. Aber ich weiß, worauf das hinausläuft und versuche gar nicht darauf einsteigen. Man darf sich dabei nicht unhöflich vorkommen. Ich schaue ihn mir genau an und weiß, wenn ich nicht ihm sofort energisch klar mache, dass ich nicht mit ihm reden will, wird er mir ansonsten die nächste halbe Stunde nicht mehr von der Seite weichen. Ich wechsle die Straßen Seite und sage ihm klipp und klar, dass er mir nicht weiter hinterherlaufen soll. „Gut, der wäre auch abgeschüttelt.“

Es wird langsam Abend und ich mache mich zurück auf den Weg nach Areo City. Wieder im Hotel angekommen sehe ich auf einmal noch mehr sehr gut angezogene Menschen und noch größere Autos. Laute Musik schallt aus dem Eingangsbereich des Hotels. Ich gehe zur Rezeption und frage, was hier los ist. Die nette Rezeptionistin erklärt mir, dass im unteren Teil des Hotels gerade ein Event der Delhi Fashion Week abgehalten wird und fragt mich, ob ich dabei sein möchte. Sie winkt mir mit einer kostenlosen Eintrittskarte. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. 10 Minuten später sitze ich mitten drinnen und sehe den Models bei Ihrer Performance zu. Ja, so etwas kann einem nur in Indien passieren … direkt vom Kuhfladen zum Catwalk!

 

Sven Hassler, Oktober 2019